Kretisches Kaffeetagebuch: der Gesetzeskodex von Gortyn

„In der Zeit der Hochblüte minoischer Kulturen stand im Süden Zentralkretas, in der Messará, alles im Schatten des Palastes von Festós. Górtis erwachte erst zu eigenem Leben, nachdem die großen minoischen Lebenszentren ausgelöscht waren und die Dorier die Macht übernommen hatten. (…) Bis es dann 67. v. Chr. zusammen mit der übrigen Insel in römische Hände fiel. Im Gesamtplan des römischen Imperiums wurde Górtis der Sitz des Prätors und damit zur Hauptstadt einer Kreta und die Kyrenaika umfassenden Provinz. Die fruchtbare Messará war der „Brotkorb“ des kaiserlichen Roms und Gortys entwickelte sich zu einer gepflegten Provinzstadt.“ So John Bowman in seinem Kretaführer von 1962.

Fruchtbar ist es hier noch heute. Davon künden die zahlreichen Gewächshäuser entlang des Weges. Heute wird damit nicht mehr das römische Imperium Romanum versorgt, sondern Kreta und halb Europa. Nach unserer Kaffeepause in Ano Viannos geht es zügig über zum Teil recht gebirgige Straßen in die Messara, die besagte fruchtbare Ebene. Bis uns ein gelb-brauner Wegweiser aus unserem Trott reißt. Hier ist Gorstis, das antike Gortyn oder auch Gortyna, beziehungsweise was davon übrig geblieben ist.

Und das ist weit umfangreicher, als das umzäunte und eintrittspflichtige Ausgrabungsareal vermuten lässt. Darunter das Pretorium, ein großes, luxuriöses und imposantes Gebäude aus dem ersten Jahrhundert, das als Hauptsitz der römischen Provinz Kreta und Cyrenaica genutzt wurde, die antike Akropolis aus dorischer Zeit, römische Thermen, die erst 1978 zufällig entdeckte große Basilika des heiligen Titus, der Tempel des pythischen Apollo aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert sowie ein Heiligtum für die ägyptischen Götter Isis, Sarapis und Hermanubis – alles Orte, die wir nicht besucht haben, weil wir uns auf die Agora mit dem Gesetzeskodex konzentriert haben.

Gründungsmythen gibt es einige für diese Stadt. So soll der sagenhafte König Minos sie selbst gegründet haben. Nach anderer Lesart hingegen war es sein Bruder Rhadamanthys oder dessen Sohn Gortys, was ja zum Namen passen würde. Heute ist erwiesen, dass bereits Neolithikum, also lange vor den Minoern, hier gesiedelt wurde. Etwa im achten Jahrhundert v. Chr. Befand sich hier bereits eine aufstrebende Handelsstadt mit den beiden Häfen Matala und Levin. Gortyn war so bedeutend, das es Homer in seiner Ilias erwähnte. 500 v. Chr. wurde das Stadtrecht kodifiziert und im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelt – das älteste europäische Gesetz in Schriftform.

Während der Blütezeit der Stadtstaaten in Klassik und Hellenismus gehörte Gortys mit Knossos, Eleutherna, Kydonia und Lyktos zu den wichtigsten und mit 40.000 bis 80.000 Einwohnern bevölkerungsreichsten Städten der Insel. Im 3. Jahrhundert v. Chr. dominierte die Stadt das südliche Zentralkreta uneingeschränkt. 189 v. Chr. fand Hannibal hier Asyl, obwohl er befürchtete, dass die Kreter seine Schätze an sich nehmen könnten. Weil sich Gortyn mit Rom gegen Knossos verbündete, wurde hier nach der Besetzung der Insel die Hauptstadt der Provinz Creta et Cyrene eingerichtet.

59 n. Chr. predigte hier der Apostel Paulus. 250 n. Chr. sollen in der Nähe die sogenannten Zehn Heiligen Bischöfe den Märtyrertod gefunden haben. Der Name der Stadt Agii Deka geht auf dieses Ereignis zurück. In einer mittelalterlichen Quelle wurde Gortyn bereits für das 2. Jahrhundert neben Knossos als Bischofssitz bezeichnet, erster Bischof soll der heilige Titus, ein Schüler des Apostels Paulus, gewesen sein. Nach der Teilung des Römischen Reiches im Jahre 395 wurde Gortyn Byzanz zugeschlagen und fristete in der Folgezeit eher ein Schattendasein. Nach der Einnahme durch die Araber im Jahr 824 ging Gortyn endgültig zugrunde und erwachte nie wieder zum Leben. Seit 1884 wurde die antike Stadt von italienischen Archäologen ausgegraben.

Wir konzentrierten uns auf den alten Stadtkern von Gortyn. Auf das Grabungsfeld kommt man entlang der sogenannten Titus-Basilika, die Ruine einer frühchristlichen Basilika aus dem 6. Jahrhundert von der nur der Altarbereich der Basilika noch steht. Die Ausgräber vermuteten hier die Kirche des heiligen Titus, des erste Bischofs von Kreta. Da bei späteren Ausgrabungen im Ort Mitropolis eine weitere, ältere Kirche entdeckt wurde, gilt das inzwischen als fraglich. Das Zentrum der Stadt wird durch das Odeion geprägt. Wie ein Ring wird das Odeion durch die Agora mit der Steinmauer mit dem eingemeißelten Stadtrecht umfasst.

Die aus 42 Steinblöcken zusammengesetzte Inschrift mit 17.000 Zeichen im alten dorischen Dialekt befand sich ursprünglich an den Wänden eines öffentlichen Gebäudes an der Agora der antiken Polis. Da die Römer die Schrift nicht lesen konnten, behielt man die Steine aus dekorativen Gründen und verwendete sie für den Bau des Odeions. Der für alle sichtbare Kodex beinhaltete Gesetze zum Familien- und Erbrecht, zum Sachrecht, zum Strafrecht und schließlich zum Prozessrecht. Erstaunlich liberal enthält er alle für das Gemeinleben wichtige Bestimmungen. Die Zeilenführung verläuft im Boustrophedon – „wie ein Ochse (beim Pflügen) wendet“ – dabei wird abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links geschrieben; bei der Schrift von rechts nach links sind die Buchstaben spiegelverkehrt.

Ein Blick über den Zaun vermittelt ein Gefühl davon, wie riesig diese Stadt dereinst gewesen sein muss. Dabei stehen viele Ruinen der alten, vorwiegend römischen Gebäude vollkommen frei. Ich glaube man könnte Tage hier verbringen! Wir widerstehen der Versuchung hier sesshaft zu werden und setzen unsere Reise fort. Auch die „Große Labyrinth-Höhle“, ein künstlich angelegtes Höhlenlabyrinth in den Felsen über Gortis, lassen wir aus. Außerdem möchten wir den Minotaurus nicht stören. Es warten auch so noch genügend Abenteuer auf uns!

Quellen: Wikipedia, Globetrottel.net, cretanbeaches.com, kretareise.info, kreta.com, John Bowman – Kreta.

3 Gedanken zu “Kretisches Kaffeetagebuch: der Gesetzeskodex von Gortyn

  1. Bei Magenta-TV gibt es einen Kanal namens Anixe, der ist an sich nichts besonderes – doch jeden Abend so gegen sieben Uhr sendet man dort kurze aber sehr interessante Dokus über Kreta – Sehenswürdigkeiten, Hotel- und Restaurant-Tipps, Rezepte etc. Ich schau mir das fast täglich an, die Sendungen sind eine gute Ergänzung zu deinen Blog-Posts. 😉

    Gefällt 2 Personen

Hinterlasse eine Antwort zu Martha, die Momente-Sammlerin Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..