30 Jahre Massaker von Srebrenica (Update)

Der Geruch von frisch gebratenem Fleisch durchzieht die Luft in Schwaden. Ein Fleischverkäufer zerteilt ein Stück Hammel auf einem Holzblock mit dem Beil. Am Straßenrand stehen verkrüppelte Menschen, betteln oder verkaufen Wasser und Limonade aus mit Wasser gefüllten Plastiktonnen. Unter dem Schatten der wenigen Bäume kauern Frauen mit Kopftüchern als könnten sie sich unter der Hitze wegducken. Die Bilder gleichen denen, die vor 30 Jahren über unsere Fernseher flackerten. Viel zu viele Menschen auf engstem Raum, eine Karawane aus Leibern, die nicht abreißen will. Die Straßen sind längst verstopft und ab Bratunac gesperrt. Vor der Fabrikruine stehen Busse in langen Reihen. Wie sich die Bilder gleichen! Nur diesmal haben die Busse die Menschen nach Potočari gebracht, vor 30 Jahren waren sie angerückt um Frauen und Kinder zu deportieren, während ihre Männer, Väter und Söhne ermordet wurden. Bei einem der größten Massaker auf europäischem Boden.

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Vor neunzehn Jahren saß ich an einem Sonntagmorgen im Taxi und hörte B5 aktuell. Es war Pfingsten und die BR-Korrespondenten brachten ihre Radio-Features, halbstündige Radioreportagen, die Sahnestücke, das Salz in der Suppe, die Momente, die aus dem journalistischen Arbeitsalltag herausragen. Der Balkan-Korrespondent berichtete über Srebrenica, eine kleine, unwichtige Provinzstadt, die einmal im Jahr zum Zentrum des medialen Interesses wird, nämlich immer dann, wenn der Jahrestag des Massakers begangen wird. Das einzige Hotel des Ortes ist dann ausgebucht. Doch der Hotelier hatte weder Kosten noch Mühen gescheut um den angereisten Presseleuten einen damals in dieser Region unglaublichen Service zu bieten: Internet.

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Heute jährt sich das Radio-Feature zum 19. Mal – und der traurige Anlass dafür zum 30. Mal! Am 11. Juli 1995 stürmten die Soldaten der bosnisch-serbischen Armee der Republika Srpska unter dem Kommando von Ratko Mladić die UN-Schutzzone um Srebrenica, ein kleiner Ort in einem engen Talkessel zwischen den dicht bewaldeten Bergen Ostbosniens. In den Tagen darauf wurden im Rahmen einer ethnischen Säuberung etwa 15.000 bis 17.000 Frauen und Kinder in überfüllten Bussen in von bosnischen Regierungstruppen kontrolliertes Gebiet deportiert, währen 8.000 bosnische Männer von Soldaten der Armee der Republika Srpska und paramilitärischen Einheiten ermordet wurden.

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Das Massaker von Srebrenica hat sich tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt und nimmt einen ähnlichen Stellenwert ein, wie das von Mỹ Lai oder das von Katyn. In der Erinnerung vergisst man leicht, dass auch Bosnier oder Kroaten unter den Kriegsverbrechern des Jugoslawienkrieges zu finden sind. Trotzdem sind bei diesem Ereignis die Rollen klar verteilt: die Täter sind die Schergen des Generaloberst Mladić, die Opfer hauptsächlich bosnische Zivilisten und in zweifelhafter Rolle die Soldaten der UN-Schutztruppen, die praktisch als Zaungäste und stellvertretend für die Weltgemeinschaft zu Zuschauern degradiert entweder nichts taten, oder sogar beim Verladen der Bosnier behilflich waren. Außerdem haben sie die noch verbliebenen Bosnischen Kämpfer weitgehend entwaffnet.

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Die Ermordeten wurden in Massengräbern vergraben – oft viele Kilometer vom Tatort entfernt. Weshalb es für die Hinterbliebenen oft Jahre oder Jahrzehnte dauern sollte, bis sie Gewissheit über das Schicksal ihrer Ehemänner, Väter, Söhne, Brüder, Großväter oder Enkel erhielten. Für viele gilt das heute immer noch. Wir ein weiteres Massengrab entdeckt, werden die Überreste der Ermordeten von britischen Forensikern identifiziert. Zumindest wird das versucht. Einmal im Jahr, am 11 Juli, werden die Verstorbenen in einem der Gräber auf dem Friedhof rund um die Gedenkstätte Potočari. Hier hatten die niederländischen UN-Blauhelme vom Dutchbat ihr Lager.

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Es wurde immer wieder versucht das Massaker von Srebrenica zu leugnen oder zumindest zu relativieren. Angesichts von etwa 6.600 Gräbern in Potočari und einer Liste von ebenso vielen Vermissten lässt hingegen das Schlimmste befürchten. Nach den unvermeidlichen Reden und einem gemeinsamen Gebet nehmen die Träger die mit grünem Tuch bespannten Särge auf. Eine lange Schlange grüner Särge schiebt sich dann den Hang hinauf, bis jeder der Särge sein Grab erreicht hat. Dort angekommen packt jeder mit an, nimmt sich eine der vielen Schaufeln und hilft mit die Gräber mit Erde zu bedecken. Ein Heer von Imamen rückt an. An jedem Grab wird geweint, gebetet, Abschied genommen. Und dennoch sind die froh, die jemanden begraben können, habe sie doch endlich Gewissheit. Bis heute gelten viele Menschen noch als vermisst. Bis heute tut sich die serbische Regierung schwer das Massaker als Genozid einzuordnen. Das, und ein wackeliger Frieden, der diesen Namen kaum verdient, erschweren eine Versöhnung zusätzlich.

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Vor 18 Jahren bin ich zum ersten Mal an einem 11. Juli in Potočari gewesen. Was folgte war eine Reihe von Reisen durch Bosnien, Serbien und Teile von Kroatien. auf diesen Reisen habe ich viele nette und hilfsbereite Menschen in und aus allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien kennengelernt, habe die Bosnischen Pyramiden besucht und dabei Semir „Sam“ Osmanagić – den bosnischen Indiana-Jones – kennengelernt, war beim Entschärfen von Minen in Ilijaš und im Distrikt Brčko dabei, bin mit dem „Friedenszug“ von Belgrad nach Sarajewo und über eine der schönsten Bahnstrecken Europas von Sarajevo nach Ploče gefahren, habe mich mit Taxifahrern gestritten und andere mit Trinkgeld überhäuft, habe im Stadion Koševo ein Dino-Merlin-Konzert genossen, unzählige Ćevapi gegessen, Drina geraucht und Kaffee getrunken, Mokka aus kleinen Tässchen und metallenen Kännchen.

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Kaffee ist immer auch politisch. Wie in Griechenland, wo nach dem Zypern-Konflikt aus dem türkischen Kaffee der „Eleniko“ wurde, ist Kaffee im ehemaligen Jugoslawien entweder „bosanska“, „srbska“ oder „turska“, je nach dem, auf welchem Hoheitsgebiet man sich gerade befindet. An der Zubereitungsart ändert das natürlich nichts. Es bleibt ein starker Mokka, mehr oder weniger süß und man muss beim Trinken aufpassen, dass man nicht plötzlich den Satz zwischen den Zähnen hat.

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Ich habe ein zutiefst gespaltenes und zerrissenes Land erlebt mit liebenswerten Menschen. Trotzdem oder gerade deshalb lässt uns ein Ereignis wie Srebrenica ratlos zurück. Die Erklärungen sind griffig. Sie befriedigen aber nicht. Ein Teil der Lösung mag dieser unselige Nationalismus sein, wie er überall in Europa und anderswo wieder keimt. Dabei trägt der Konflikt die Lösung schon in sich. Schon seit Jahrhunderten ist der Balkan die Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen West und Ost, zwischen Islam,. Orthodoxie und Katholizismus. als Sinnbild mag die Brücke von Mostar herhalten, die bildlich einen Bogen von einer Welt in die andere schlägt. Sarajevo, wo sich Belagerer und Bewohner über Jahre hinweg bis aufs Blut bekämpft haben, ist heute wieder Sinnbild für eine Stadt, in der verschiedene Ethnien und Religionen zusammen leben. Mehr oder weniger.

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An einem Tag wie heute, dem 30. Mal, dass sich das Massaker von Srebrenica jährt, bleibt mir nur allen Menschen Frieden zu wünschen. Und die Zeiten beweisen, dass dieses Ziel in weiter Ferne liegt! Zuerst fahren unter Blaulicht die Limousinen der Politiker ab, dann strömen alle zu den Bussen oder laufen die zwei Kilometer zurück nach Bratunac, wo ihre Autos parken. An der Hauptstraße stehen alle 50 bis 100 Meter Polizisten, serbische Polizisten, die das Treiben misstrauisch beobachten. Eine Stunde später sitze ich in dem Linienbus, der mich zurück nach Sarajevo bringt. Die meisten Mitfahrer schweigen. Als wäre es auch heute – 30 Jahre danach – unmöglich das Geschehene in Worte zu fassen. Ich schweige mit.

23 Gedanken zu “30 Jahre Massaker von Srebrenica (Update)

      1. Diese Massenmorde gab es leider in jedem Krieg, nur schaffen es nicht alle in die Aufmerksamkeit der UN oder der Medien.

        Aber damit möchte ich diesen Genozit nicht herabwürdigen.

        Die -gefühlte- Völkerrechtswidrigkeit von Überfällen und Kriegen folgt allerdings einer politischen Agenda und ist zumindest vage neutral, der Internationale Gerichtshof nur ein Marionettentheater für die USA, China, Russland, etc, etc.

        Es ist verdeckt erkennbar, dass es nur Krokodiltränen sind, die hier vergossen werden. Die Wahrheit stirbt in Kriegen immer zuerst.

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        1. Der Internationale Gerichtshof verdient wie auch die Vereinten Nationen unseren höchsten Respekt. Es sind nicht diese Institutionen, die zu verurteilen sind, wenn sie machtlos gegen die Verbrechen der Menschlichkeit sind, sondern die Täter, Befehlshaber und Präsidenten.

          Es ist das Veto-„Recht“, das die Würde des Internationalen Gerichtshofs und der Vereinten Nationen untergräbt. Und Staaten, die auf ihrem Veto-„Recht“ bestehen, entblößen sich -ganz öffentlich- als Unrechtsstaaten, denen ihre politischen Interessen wichtiger sind als die Einhaltung des Völkerrechts.

          Wie schön wäre es, wenn die anderen Nationen vereint das Vetorecht der „Mächtigen“ übergehen würden, um wirksame Sanktionen zu beschließen und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
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          Und die unzähligen Toten… die Befehlshaber sollten zur Strafe in die tränengefüllten Augen der Angehörigen jedes einzelnen Toten schauen müssen, während sie den Befehlshabern sagen: „Sie haben den Befehl gegeben meinen Sohn zu töten. Ich vergebe Ihnen, aber vergessen können werde ich es nicht.“ Für jeden Toten ein Termin. Jede Woche ein Termin mit einem Angehörigen.

          Genauso wenig ist für mich zu verstehen, dass die Zerstörer dieser Welt nicht für den Wiederaufbau verantwortlich gemacht werden. Das ist doch das Mindeste, was man erwarten darf, dass jemand, der etwas kaputt macht, die Kosten für die Reparatur trägt.

          Das gilt natürlich für Zerstörer und Täter auf beiden Seiten.

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  1. Vielen lieben Dank für diesen so ungemein wichtigen Beitrag. Gerade heutzutage, wenn vor allem aus Serbien wieder nationalistische Töne kommen, die Sorgen bereiten und in denen Mladic als Kriegsheld gefeiert wird.
    Ich muss zugeben, Srebrenica bisher zu besuchen gescheut zu haben. 2023 wäre im Juli die Gelegenheit gewesen. Aber ich empfinde, dass ich dann dort nicht hingehöre, vielleicht ein Schaulustiger der Trauer zu sein. Das wollte ich nicht.
    Ich hab auch einen Blogtext hervorgekramt, nur ein paar kurze Gedanken – Nachwehen zum Besuch der Galerija 11/0/95 in Sarajevo, in der die Fotoarbeiten von Tarik Samarah gezeigt werden.
    Zu lesen hier:

    https://zwetschgenmann.de/remembering-srebrenica

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    1. Danke für Deinen Link. Ich habe mir bei den beiden Besuchen dort auch die Frage gestellt in wieweit ich da eigentlich fehl am Platz bin. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Sie wollen, dass die Welt Anteil an ihrem Schmerz, an ihrem Leid nimmt. Das geht nur, wenn man da ist – und dann später Beiträge schreibt wie diesen.

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  2. Worte fassen es nicht. Schon gar nicht für die Betroffenen. Der Opfer. Leichter die Täter und ihre Kumpane: Wir haben nie – alles eine Fälschung, üble Nachrede – aber es waren viel zu wenige, es laufen immer noch welche rum, wäre mal Zeit…
    Denn der Hass stirbt nicht, es gibt immer einen, der ihn schürt (und entsprechende Parlamentsreden führt). Und so jemand findet auch die, die ihn wollen, wählen, ihm zujubeln. Oder ihr, wenn wir schon beim konkreten Beispiel bleiben wollen, denn zumindest in Deutschland sind unter den Haßrednern die Frauen ganz weit vorne mit dabei.
    Warum der Hass nicht stirbt? Ach, wenn das jemand wirklich wüßte! Ein Punkt bleibt: Die Hasser wollen etwas an sich reißen, was andere haben, besitzen, sich aufbauten. Sie wollen nicht nur morden, sondern auch rauben. Und hinterher so tun, als wäre da nichts gewesen. Denn, wie oben, nie hat man…

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    1. Es ist tatsächlich nicht einfach. Die Täter waren nämlich nicht nur die Soldaten, sondern auch serbisch+stämmige Mitbürger, Nachbarn. Sie haben den Soldaten gezeigt wo bosnische Muslime wohnen oder verraten wo sich Familien verstecken. Die Hoffnung liegt auf der nächsten Generation. Viele mit denen ich gesprochen habe sind diesen Konflikt leid. Leider werden Muslime in der Republica Srbska bis heute diskriminiert. Fun fact am Rande: in Bosnien werden Autokennzeichen neutral vergeben. Das heißt, dass man am Kennzeichen nicht erkennen kann woher ein Fahrzeug kommt. So will man Diskriminierung, Sachbeschädigung oder Schlimmerem vorbeugen.

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        1. Schuld ist der Nationalismus, egal auf welcher Seite. Historisch richtig ist allerdings auch, dass Serbien nicht damit klarkam nach dem Zerfall von Jugoslawien nicht mehr in der Vormachtstellung zu sein.

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