Der Einwohner hier im abgelegenen Südwesten Kretas waren schon immer eigenwillig. Sie entzogen sich über viele Jahrhunderte hinweg der jeweiligen Besatzungsmacht. Die Nachfahren eingewanderter Dorier und nannten sich Sfakiaken, Sphakianer oder Sfakioten. Schon als die Sarazenen 824 n. Chr. Kreta eroberten, entgingen viele Regionen der Insel, darunter auch die Sphakia, der effektiven arabischen Herrschaft. Sie waren und blieben die Herren der Berge. Hier konnten sie sich effektiv verteidigen und dem Feind große Verluste zufügen.

In Byzanz genossen die Krieger der Sfakiaten höchstes Ansehen. Bei zahlreichen Schlachten kämpften sie an der Seite der Oströmer. Im Gegenzug genossen sie während der byzantinischen Periode Kretas weitestgehend Autonomie, waren von Steuern und Abgaben befreit und erhielten das Recht Waffen zu tragen. 1204 besetzte Venedig die Insel, doch hatten sie größte Schwierigkeiten auch im Südwesten Fuß zu fassen. Während im Norden Kretas die venezianische Zeit zu einer Art kultureller Blüte und Wachstum führte, sahen sich die Besatzer im Süden in einen kostspieligen Guerillakrieg verwickelt.

Bis zum Abzug Venedigs 1669 rebellierten die griechischen Bewohner der Insel mindestens 27 Mal, kleinere lokale Aufstände nicht mitgerechnet. Viele der Aufstände gingen von der Sphakia aus, von den Weißen Bergen oder dem Innahorion. Alleine zwischen 1207 und 1365 kam es zu über vierzehn Rebellionen. Auf Befehl des kretischen Herzogs Marino Gradonigo wurde das Kastell Selino im Jahr 1279 als Reaktion auf die Revolution von Chortatzis errichtet. Damit zählt sie zu den ältesten nicht antiken Festungen Kretas. Ihr Hauptzweck war es, die venezianische Herrschaft zu festigen und die strategisch wichtigen Seewege in Richtung Nordafrika zu kontrollieren, denn der Transport von Olivenöl, Johannisbrot und Getreide durch die schroffen weißen Berge nach Chania Stadt war unmöglich und ein funktionaler, geschützter Hafen unabdingbar.

Die fast quadratische Anlage mit einer Seitenlänge von rund 200 Metern besaß einen Wall von 9 Metern Höhe sowie zwei Türme im Süden und zwei Türme im Norden. Zudem verfügte die Anlage im Inneren über Wohnhäuser, eine kleine Kapelle, Wassertanks und Beamtenhäuser. Leicht war es nie auf diesem Außenposten Venedigs. 1332 besetzte Vardis Kallergis im Zuge einer Revolution die Gebäude. Der Castellan Ermolao Velenio sowie dessen Familie wurden ermordet. Kallergis selbst, der einer der einflussreichsten Familien Kretas angehörte, wurde später hingerichtet und sein Kopf an den Herzog geschickt. Ihm treu ergebene Rebellen eroberten die Festung und brannten sie nieder. Doch nur zwei Jahre später, im Jahr 1334, richteten Venezianern die Ruinen neu auf. 1539 gelang es dem berüchtigten Piraten Hayreddin Barbarossa, das Haupttor zu zerstören und in die Festung einzudringen.

Noch acht Jahre nach der Besetzung Chanias durch die Türken leistete eine venezianische Besatzung hier erfolgreich Widerstand, bis sie sich nach einem großen Angriff vom Meer aus aufgeben musste. Die Türken rissen weite Teile des Kastells ab und errichteten eine eigene kleine Festung, weshalb ein Gutteil der heute sichtbaren Ruinen aus türkischer Zeit stammen. Nicht, dass die Osmanen mit den Sfakiaken mehr Freude hatten, als die Venezianer. 1770 kam es zu einem großen Aufstand mit der Unterstützung Russlands, doch die kaum ausgerüsteten Kreter hatten keine Chance.

Der Anführer des Aufstands Ioannis Vlachos, besser bekannt als Daskalogiannis, geriet in türkische Gefangenschaft. Der Pascha von Chania nahm den Bruder und die Töchter von Daskaloyiannis als Geiseln und erpresste so – und mit dem Versprechen der Schonung der Aufständischen – eine Kapitulation. Trotzdem wurden die meisten anderen Anführer des Aufstands hingerichtet, und der wortbrüchige Pascha ließ Daskaloyiannis zunächst foltern, um wertvolle strategische Informationen zu erhalten. Auch unter Folter weigerte sich Daskaloyiannis, sein Volk den Türken auszuliefern. Selbst nachdem der Pascha den Sfakian vor Hunderten auf einem öffentlichen Platz versammelten Männern bei lebendigem Leibe häuten ließ, verriet Daskaloyiannis sein Volk nicht.

Weder der gescheiterte Aufstand von 1770 n. Chr. noch der Tod von Daskaloyiannis waren umsonst, denn beide Ereignisse weckten die Nationalgefühle aller Kreter. Die Aufstände der Kreter und der legendären Sfakianer trugen zum Aufstieg des unabhängigen kretischen Staates im Jahr 1898 bei, der auch den Weg für die Vereinigung Kretas mit Griechenland im Jahr 1912 ebnete. Die deutsche Wehrmacht begnügte sich im Zweiten Weltkrieg damit in den Ruinen zu besetzen. Und dort bis zu ihrem Abzug zu verharren. So ist das Kastell Selino ein stummer Zeuge des unbeugsamen Widerstands der Sfakianer, der wahren Herren der Weißen Berge und des Innahorions. Die Burg trägt ihren Namen übrigens aufgrund der heimischen Pflanze „Selino“, zu deutsch Sellerie. Auch heute noch ist sie Namensgeber für die Region.

Quellen: Wikipedia, cretanbeaches.com, Radio Kreta, ADAC Reiseführer plus Kreta.