Man sieht sie vom Flugzeug aus kurz vor der Landung, man sieht sie vom Meer aus und man sieht sie mit etwas Glück auch von der Festung in Pythagòrio aus: die Kolóna, die weiße Marmorsäule, die vom Heraion zehn Meter in den Himmel ragt, eben jenem Heiligtum der Hera, in dem vor Zeiten der größte und erste Monumentaltempel der griechischen Welt der Göttin geweiht wurde. Doch der Bau bedeutet weit mehr. Er belegt grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft und einen bedeutenden Fortschritt im Bau- und Ingenieurswesen. Nicht zuletzt wuchs im Schatten der Baustelle als Sohn eines Steinschneiders der berühmteste Sohn der Insel auf: Pythagoras.

Es ist Mittag in Iraion und der Rollerverleih hat geschlossen. Deshalb schmiere ich Arme und Beine mit Sonnencreme ein und mache mich zu Fuß zur bedeutendsten Kultstätte der Insel, die angeblich nur knapp 1,5 Kilometer entfernt liegen soll. In Wahrheit sind es wohl eher zwei bis 2,5 Kilometer, dazu in unter heißer Sonne, dafür wird man aber mit einem Vorgeschmack auf die Köstlichkeiten der Insel belohnt.

Eingangs die Ierá Odós, die gepflasterte heilige Straße, die ursprünglich die antike, sechs Kilometer entfernte Stadt Samos, das heutige Pythagório, mit dem Tempelbezirk verband. Geblieben sind noch die letzten hundert Meter. Dieser Ort war zahlreichen Veränderungen unterworfen, von denen ich hier nur die wichtigsten kurz erwähnen will. Ein Heiligtum gab es hier wohl schon seit über 3.000 Jahren, also vor der Besiedelung durch die Mykener. Wahrscheinlich ist, dass die Einwanderer die dort verehrte Fruchtbarkeitsgöttin mit ihren Vorstellungen verschmolzen. Es entstand die Göttin Hera, die man damals noch nicht als das stets eifersüchtige Weib des Zeus sah. Geblieben aus dieser Verschmelzung ist ihr Geburtsort am Ufer des Imbrasos und die ihr zugesprochene Pflanze, dem Lygos, bei uns besser bekannt als Keuschlammstrauch oder wilder Mönchspfeffer.

Zufällig ist die Wahl des Ortes nicht. Während sich andere Gottheiten, wie Athena oder Apollon, gerne auf Anhöhen, Gipfeln oder Graten verehren ließen, war die Ebene von jeher der Göttin der Fruchtbarkeit und der Ehe vorbehalten. Und in der Tat fand man bei Ausgrabungen unter dem Ur-Altar die Wurzeln eines Lygos-Baumes, von dem antike Geschichtsschreiber berichten, er sei der älteste Baum Griechenlands gewesen. Der Reiseschriftstelle Pausanius will ihn noch im zweiten Jahrhundert gesehen haben.

Doch so kommen wir auch zum größten Problem des Heraions: die verschiedenen Bauphasen liefen nicht nebeneinander, sondern eher übereinander ab. Um sich die Ausmaße der Tempel zu ihrer Blütezeit vor Augen zu führen, braucht man schon sehr viel Phantasie. Allerdings helfen einem die zahlreichen Schautafeln dabei die übriggebliebenen Grundmauern und Tempelfragmente in ein Großes und Ganzes einzuordnen. Der Verfall hat viele Gründe: schon die Römer missbrauchten die Tempelanlage als Steinbruch für eigene Bauvorhaben, natürlich erst, nachdem alles figürliche und künstlerisch Verwertbare geraubt war. Die Masse der Mauern, Säulentrommeln und Kapitelle wurde allerdings erst 1.000 Jahre später von den Venezianern und Genuesern auf Schiffen abtransportiert. Was die übrig gelassen haben, verwendeten schließlich die Samioten zum Bau von Häusern, Ställe und gemauerten Feldrainen.

So kommt der Kolóna eine traurige Aufgabe zu. Man vermutet, dass man sie deshalb stehen ließ, damit sie den Steinräubern als Wegweiser dienen konnte. Und trotzdem hilft uns gerade sie, wenn wir versuchen wollen uns die wahren Ausmaße des Polykratestempels vorstellen. Nun der Reihe nach: unter dem ursprünglichen Baumheiligtum entstand im späten zweiten vorchristlichen Jahrtausend zuerst ein Altar aus Stein. Etwa 800 v. Chr. wurde hier der erste Hektatompedos, der Hundertfußtempel, als einer der ersten griechischen Tempel überhaupt errichtet, der etwa 100 Jahre später von einem weiteren Hektatompedos überbaut wurde.

Diese Bauten waren nur möglich, weil sich die Gesellschaft veränderte hatte, den eine Gemeinde alleine wäre von so einem Unterfangen überfordert gewesen. Doch erst die Entstehung der Polis machte solche Projekte möglich. So wurde aus einem Natur- und Baumheiligtum ein Tempelbezirk mit heiliger Straße als religiöses und kulturelles Zentrum eines Stadtstaates. Doch für den Bau noch größerer Tempel war auch eine größere gesellschaftliche Umwälzung notwendig: erst das Zeitalter der Tyrannen ermöglichte die Verwirklichung solcher, zur damaliger Zeit geradezu irrwitzigen Großbauten. Zu ihnen zählen nicht nur Tempel, sondern auch Festungen, Stadtmauern und Hafenanlagen, wie wir noch sehen werden.

Zurück zum Heraion: um 570 v. Chr. wurde der Hektatompedos endgültig abgetragen. Er sollte dem nach einem der beiden Baumeister Rhoikostempel benannt werden, dem schönsten und größten Tempel seiner Zeit. Und doch wurde er nur Jahrzehnte später wieder bis auf die Grundmauern sorgfältig demontiert, wurde doch jeder Stein für ein noch ehrgeizigeres Bauprojekt benötigt: der nach dem Tyrannen benannte Polykratesbau mit einer Grundfläche von 52,5 x 105 Metern , 52 elf Meter hohen Säulenpaaren und einer Höhe von über 15 Metern. Damit vor dem Hera-Altar ein größerer Festplatz entstünde, wurde der Bau zudem um 40 Meter nach Westen verlegt.

Auch von diesem Weltwunder stehen nur noch die Grundmauern und eben diese eine Säule. Später entstand neben der Tempelruine eine römische Siedlung mit einigen kleineren Tempeln und einer Therme. Natürlich bediente man sich beim Bau beim reichlich vorhandenen antiken Material. Im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde auf dem Festplatz eine frühchristliche Basilika gebaut und dem Heiligen Dimitrios geweiht. Sie sollte den Sieg des einzigen Gottes über die der Heiden symbolisieren. Von ihr ist so gut wie nichts geblieben. Die noch heute sichtbare Ruine einer Apsis entstammt allerdings einer Kreuzkirche aus dem 16. Jahrhundert. Doch auch sie war nicht von Dauer.

Man kann es als späte Rache interpretieren oder als Sieg der Natur über Menschenwerk, doch breitet sich heute eine Pflanze wieder auf dem Ruinengelände aus: der Lygos-Strauch, der wilde oder Mönchspfeffer, die Pflanze der ursprünglichen Göttin.
Quellen: „Samos“, Dumont direkt; Thomas Schröder, „Samos“, Michael Müller Verlag; Jost Herbig, „Ionische Reise“, Hoffmann und Kampe; Wikipedia.
Ein sehr schöner Beitrag. Vielen Dank.
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Sehr gerne nehme ich Euch zu diesem besonderen Ort mit.
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